Der Venediger Höhenweg

Der Venediger Höhenweg

Unterwegs in den Hohen Tauern im Antlitz des Großvenedigers

Es hat wochenlang geregnet in den Hohen Tauern im Sommer 2021. Die Wiesen stehen in sattem Grün, als ich an einem Samstagnachmittag im August das kleine Örtchen Virgen im gleichnamigen Tal per ICE, EC, Bus sowie von Matrei in Osttirol zu Fuß erreiche.

Erst mittags des folgenden Tages ist das Treffen mit den übrigen neun mir unbekannten Bergfreunden sowie unserem Bergführer Andreas vom DAV Summit Club angesagt. Ich nutze den Sonntagvormittag, um den Ort kennen zu lernen und ein Stück an der Isel, einer der letzten weitgehend naturbelassenen Flüsse in den Alpen, entlang zu spazieren. Schließlich sind alle Mitstreiter*Innen eingetroffen. Ich bin, wie schon seit mehreren Jahren, wieder der Älteste und neuerdings auch der einzige Rentner. Entscheidend ist nach meiner Erfahrung bei solchen Unternehmungen aber nicht der Altersunterschied, sondern die gemeinsame Begeisterung für die Berge. Wir fahren mit den Autos bis zum Ortsteil Bichl, wo unsere Berg-wanderung beginnt. Wir steigen bei Sonnenschein schweißtreibend 1.100 Höhenmeter hinauf zur Sajathütte, dem auf 2.600 m Höhe gelegenen „Schloss in den Bergen“. Auf dem letzten Stück erwischt uns noch ein Regenschauer mit Gewitter. Während wir im Trockenen unser Abendessen genießen, bedecken Hagelkörner das Hüttenumfeld mit einer weißen eisigen Schicht. Die private Hütte ist im April 2001 von einer Schneelawine komplett zerstört und im gleichen Jahr wieder neu gebaut worden, eine enorme Leistung.

Die erste Lagernacht ist mir nicht so gut bekommen. Heute widmen wir uns dem Thema Klettersteig. Nach Einweisung in die Sicherungstechnik durch Andreas steigen wir zur Felsformation der Roten Säule in Hüttennähe auf. Der Steig mit der Kategorie B/C ist mit ausgesetzten, steilen Seilpassagen und Leitern gespickt. Als wir das Gipfelkreuz auf 2.879 m erreichen, geben die Wolken kurzzeitig den Blick frei auf den schneebedeckten Großvenediger. Es geht wieder hinunter zur Hütte und nach kurzer Mittagspause auf der Sonnenterrasse folgt der zweite Tagesstreich. Ziel ist die 3.164 m hohe Kreuzspitze, die wir über einen steilen, teils mit Drahtseilen gesicherten Pfad erreichen. Das von unserem österreichischen Bergführer vorgelegte Tempo ist relativ hoch, sodass ich gerade noch mithalten kann. Der herrliche Gipfelblick und später ein leckerer Marillenkuchen mit Käffchen entschädigen für die Anstrengung. Nach dem Abendessen erfahren wir, dass Kristof aus Rosenheim Geburtstag hat. Wir singen ihm ein Ständchen und er bedankt sich mit einer Runde Schnaps. Als dann noch die Hüttenwirtin eine Runde Marille ausgibt, droht das Ganze fast in Trinkerfestspiele auszuarten.

In der Morgenkühle steigen wir über Grashänge mit schönen bunten Blumen bergauf. Unter uns tummeln sich fünf Gämsen. Die Murmeltiere warnen sich pfeifend vor uns. Enzian und Edelweiß strecken uns ihre Blüten entgegen. Die wärmende Sonne erreicht unseren Weg und nach gut zwei Stunden sind wir an der Eisseehütte angelangt. Nach kurzer Rast geht es mit leichtem Rucksack hinauf zum klaren Eissee sowie über Geröll, Steine, durch Bäche auf unseren dritten Gipfel, den 3.024 m hohen Seewandkopf. Die Mädels machen ein imposantes Fotoshooting am Gipfelkreuz. Beim Abstieg bietet das kalte Eissee-Wasser eine schöne Erfrischung. Marcus nimmt ein Komplettbad. Einen leckeren Kaiserschmarrn auf der Sonnen-terrasse der Eisseehütte habe ich mir verdient. Trailläuferin Angela ist nicht ausgelastet und absolviert eine Extrarunde. Nach dem Drei-Gänge-Menü beziehen wir unser Zehner-Nachtlager, während Andreas es sich im Zelt gemütlich macht.

Der Aufstieg am nächsten Morgen führt durch ein wasserreiches Hochtal und ein weites Kar mit einigen versicherten Passagen hinauf auf die 2.958 m hohe Zopetscharte mit herrlichem Panoramablick. Hier weht ein kalter Wind. Sogleich geht es steil bergab. Von oben sehen wir bereits die am Ende des Dorfer Tales gelegene Johannishütte der DAV-Sektion Oberland. Nach Mittagspause und Einpacken der Gletscherausrüstung laufe ich mit schwerem Rucksack und Germknödel im Bauch zur Materialseilbahn. Unsere Rucksäcke nimmt sie uns ab und fährt sie hinauf zum Defreggerhaus. Kurzzeitig erwischt uns ein kalter Regenschauer, bevor wir unsere höchste Unterkunft auf 2.958 m erreichen. Vor dem Abendessen mache ich noch einen Spaziergang und genieße das Bergpanorama mit Gletscherblick. Die Hütte inklusive die beiden Lageretagen sind mittlerweile rappelvoll.

Ab 4:30 Uhr rumort es im Lager. Zum Frühstück erscheinen wir bereits mit angelegtem Hüftgurt und gepacktem Rucksack. Wir gehören zu den ersten Gruppen, die zum Gipfel gehen. Es ist noch leicht dämmerig, als wir kurz vor 6 Uhr aufbrechen. Das Wetter ist super und für die Höhe nicht kalt. Über ein steiles Geröllfeld steigen wir hinauf zum Gletscherrand. Erstmals lege ich für eine Gletscherbegehung keine Steigeisen, sondern nur Grödeln an. Ebenso gehe ich erstmals in einer großen Seilschaft mit elf Leuten. Andreas ist ein Profi, der weiß, was zu vertreten ist. Er schlägt diesmal ein moderates Tempo an, sodass ich nicht ins Schwitzen komme. Das Mullwitzkees ist schneebedeckt, relativ flach und hat wenig Spalten. Trotzdem rutschen zwei unserer Mitstreiter in das gleiche Loch bis zur Hüfte hinein. Viele Seilschaften steuern das gleiche Ziel an wie wir. Als das Gelände steiler wird, bauen wir auf kurze Seillängen um. 

Der Himmel reißt vollständig auf und nach ca. drei Stunden stehen wir am Gipfelkreuz des 3.674 m hohen Großvenedigers, des höchsten Punktes im Land Salzburg. Die Panoramasicht ist umwerfend: Kaisergebirge, Loferer Steinberge, Watzmann, Großglockner, Dolomiten mit Drei Zinnen, Ortler, …. Es ist ein erhabenes Gefühl, bei diesem Wetter hier oben zu stehen. Einer meiner Bergträume geht in Erfüllung!

Während wir uns auf den Rückweg begeben, kommen uns viele Seilschaften und sogar zwei Einzelgeher ohne Seil und Steigeisen/Grödeln entgegen. Was für ein Leichtsinn. Der Schnee ist sulzig geworden und die Sonne brennt. Nach fünf Stunden erreichen wir wieder das Defreggerhaus. Nach kleinem Imbiss und Rucksackpacken für den Seilbahntransport steigen wir ab. Andreas und Kristof gehen voraus, um die Gondel zu entladen. Ich bin jetzt richtig gut drauf und erreiche als erster vor der Hauptgruppe die Talstation, an der gerade die Gondel mit unseren elf Rucksäcken angekommen ist. Bis zur Johannishütte müssen wir sie noch tragen. Eine heiße Dusche, reichlich Speis und Trank inkl. diverser Alkoholitäten beschließen den schönen Tag.

Am Schlusstag werden wir nach dem üppigen Frühstücksbuffet mit dem Hüttentaxi hinunter zum Parkplatz nach Bichl gefahren. Nach der allgemeinen Verabschiedung nimmt Kristof mich und zwei weitere Bergfreunde mit dem Auto mit bis Rosenheim. Weiter geht es per Regionalbahn und ICE nach Halle, wo mich meine liebe Frau mit dem Auto vom Bahnhof abholt.

Eine wunderschöne, abwechslungsreiche, sechstägige Hüttentour inklusive vier Gipfeln, einem Klettersteig sowie der Krönung Großvenediger bei Kaiserwetter mit einer guten, sympatischen Truppe und einem ebensolchen, erfahrenen Bergführer ist zu Ende.

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