Der Atem stockt, während wir mit ganz viel Luft unter den Sohlen eine ausgesprochen exponierte Passage queren. Mir gegenüber bewegen sich auf einem Band mitten in einer senkrechten Felswand der Bergführer und der Rest der Gruppe voran, klein wie Ameisen in einem schmalen Felsspalt, der sich diagonal durch das gewaltige Gestein zieht. Links und rechts ragen die bizarren Dolomittürme in den Himmel empor. Ihre Zacken verschwinden immer wieder im unheimlichen und allgegenwärtigen Nebel der Brenta, was der ganzen Szenerie einen mystischen Charakter verleiht. Über die Kante fällt der Blick tief hinab ins Innere dieser spektakulären Felsformationen. Klischeehaft? Vielleicht. Aber vor allem atemberaubend – die Brenta muss man erlebt haben!
Luftige Bänder und eiserne Leiter, faszinierende Tiefblicke und ein gemütliches Hüttenambiente – all das eingebettet in eine einzigartige Landschaft mit ausgeprägtem Dolomitenflair. Im Mittelpunkt der markante Turm von Campanile Basso, das Wahrzeichen der Brenta – zusammengefasst das vielleicht schönste Gebiet in ganz Dolomiten. Sechs Tage lang führt die Tour über technisch einfache und gut ausgebaute Klettersteige im Herzen der Brenta von Hütte zur Hütte oberhalb von Madonna di Campiglio. Unterwegs sind wir in einer überschaubar kleinen Gruppe von maximal sechs Personen, begleitet von einem lokalen englisch- oder deutschsprechenden Guide mit hervorragendem Gebietswissen, vermittelt durch unsere, vor Ort ansässige Partneragentur.
Trotz zahlreicher Kletter- und Klettersteigtouren in den beliebten Dolomiten war die Brenta für mich bislang ein weißer Fleck auf der Landkarte. Umso größer ist die Vorfreude, als ich in Madonna di Campiglio aussteige - dort treffe ich in einer gemütlichen Bar auf den Rest der Gruppe. In dieser für den Skitourismus bekannten malerischen Ortschaft an der Talstation der Grosté-Seilbahn beginnt die unvergessliche Woche. Unser Guide Martino begrüßt uns mit einem breiten Lächeln und seiner ausgesprochen sympathischer Art. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde und der Ausrüstungsausgabe geht es in den Nachmittagsstunden zügig mit der Seilbahn zur Mittelstation. Von dort erreichen wir nach einem kurzen Aufstieg von rund 200 Höhenmetern und etwa einer halben Stunde Gehzeit die gut vernetzte Grafferhütte. Bereits unterwegs lassen sich die ersten spitzen Felstürme bewundern: ein kleiner Vorgeschmack auf die bevorstehende Tour. Auf der sonnigen Hüttenterasse genießen wir den ersten Kaffee und ein Stück Beerenkuchen vor der imposanten Dolomitenkulisse im Licht der untergehenden Sonne. Bereits während der Kennenlernrunde und Programmbesprechung werden aufgrund des unbeständigen Wetters mögliche Programmänderungen anvisiert. Nach einem üppigen Dreigängemenü und einem traumhaften Sonnenuntergang am Grosté-Pass geht es zeitig ins kleine gemütliche Zimmer mit Stockbetten. Denn bereits in der Früh - nach einem ebenso großzügigen Frühstücksbuffet mit Rührei und einem Stück Kuchen – beginnt unsere Durchquerung.
Aufgrund eines vorangegangenen Felssturzes an der Cima Falkner Anfang August ist die Einstiegsferrata Sentiero Benini aktuell für Begehungen gesperrt. Dank der guten Vernetzung der einzelnen Hütten durch einfache Wanderwege lässt sich diese Etappe ohne Probleme auf einem idyllischen Weg mit einem angenehmen Zustieg zur eindrucksvoll gelegenen Hütte Rifugio Tuckett umgehen. Nach einer kurzen Stärkung und einem freundlichen Plausch mit dem Hüttenwirt holen wir den ausgefallenen „Warm-up“ am Nachmittag mit einer kleinen Klettersteigrunde zügig nach. Mit einem leichten Gepäck steigen wir etwas mühsam auf einem schottrigen Pfad durch ein vom Gletscher geformtes Gelände bis zur Scharte Bocca di Tuckett auf 2648 m auf, in der wir bereits mit einem faszinierenden Rundumblick auf das Herzstück der Brentadolomiten belohnt werden. Zu Beginn der Saison ist die Rinne häufig vom Schnee bedeckt, was den Aufstieg mit Steigeisen oder Grödeln sogar erleichtern kann. Von diesem Ausgangspunkt startet auch der berühmte Klassiker Sentiero Bocchette Alte, das absolute Highlight der Klettersteigdurchquerung, geplant für den dritten Tag. Doch an unserem „Trainingstag“ biegen wir in das letzte begehbare Stück des Sentiero Benini ein, steigen über den Sentiero Dellagiacoma ab und tauchen erstmalig in das typische System der eisernen Leitern und schmalen Bänder, das die Brenta so besonders macht. Unterwegs passieren wir mit Gänsehaut den zerbröselten Turm der Cima Falkner – der Klimawandel und die zunehmende Steinschlaggefahr im Gebirge ist hier spürbar. Unser Guide Martino begleitet die Reise mit spannendem Hintergrundwissen rund um Geologie, Geschichte, Geografie und Alpinismus in den Dolomiten, sowie mit Tipps zu weiteren Tourenmöglichkeiten. Zum Abend erwartet uns erneut eine Auswahl aus sieben möglichen Mahlzeiten und eine herausragende italienische Küche.
Der dritte Tag bringt die ersten Routenänderungen mit sich, da die Wettervorhersage einige Überraschungen für uns bereithält. Aufgrund der instabilen Front entscheiden wir uns für die kürzere Variante zum Rifugio Alimonta, den Sentiero SOSAT. Der dichte Nebel liegt tief über dem Gelände, die Sicht ist eingeschränkt, und gelegentlich bekommen wir ein paar Regentropfen ab. Die Feuchtigkeit hängt schwer in der Luft – großartige Ausblicke bleiben zunächst aus. Der Weg führt über senkrechte Leitern, durch blockiges Gelände und schließlich hinab in eine tief eingeschnittene, geheimnisvolle Schlucht. Auf der gegenüberliegenden Seite steigen wir steil wieder empor und passieren eine enge Kriechpassage, durch die sich selbst kleinere Personen gebückt zwängen müssen. Wer die Vertikalen liebt, kommt hier definitiv auf seine Kosten. Enge Stellen, Schlupflöcher und Kamine im rauen Dolomit sind hier keine Seltenheit. Zum Ende des Klettersteigs reißt die Nebeldecke plötzlich auf und enthüllt nicht nur die schroffen Türme vor unserer Nase, sondern auch die vergletscherte Adamello-Gruppe in der Ferne.
Wir dringen immer tiefer in die majestätische Landschaft ein, umgeben von den zinnenartigen Gipfeln, bis wir zu einer Abzweigung gelangen. Da sich das unbeständige Wetter mittlerweile wieder beruhigt hat, bietet uns Martino an, die Klettersteigrunde durch die Fortsetzung auf dem Sentiero Oliva Detassis – einschließlich des letzten Stücks vom Bocchette Alte – auszudehnen, was wir dankend annehmen. Auf langen und steilen Leitern bis zur Schwierigkeit C überwinden wir eine überhängende Wand, die uns zu einem abenteuerlichen Felsgesims führt. Dieser leitet uns zunächst in die ausgesetzte Bocca del Massodi, dann weiter auf ein Plateau unterhalb der Cima Molveno. Schon während des Quergangs werden wir mit fantastischen Ausblicken auf die gewaltigen Wände um uns herum belohnt. Die Wolken ziehen im Zeitraffer vorbei und das Ganze bietet unzählige Fotomotive. Nach einer kurzen Stärkung gelangen wir durch loses Schottergelände und glitzernde Felsbrocken zur höchstgelegenen und privat betriebenen Hütte in den Brenta-Dolomiten: dem Rifugio Alimonta. In einem beeindruckenden Kessel genießen wir die karge, mondähnliche Felslandschaft und die ästhetische Glocke von Nini vor der Hütte, bis alles in einem kompletten Whiteout verschwindet. Die Hütte wird derzeit renoviert – mit dem Ziel, in Zukunft mehr Platz in den Zimmern, modernen Sanitäranlagen und einem erweiterten Barbereich zu bieten.
Der darauffolgende Tag steht ganz im Zeichen des Dauerregens, wodurch der geplante Klettersteigtag komplett ins Wasser fällt. Dank einer guten Logistik können wir auf die Situation spontan reagieren und glücklicherweise noch einen Hüttenwechsel vornehmen. Nach einem gemütlichen und ausgiebigen Frühstück machen wir uns im strömenden Regen auf einem unschwierigen Wanderpfad in etwa einer Stunde direkt zur Brentei-Hütte, auf der wir nun zwei Nächte verbringen. Die modernisierte Hütte empfängt uns mit viel Raum zum Entspannen und einem warmen Willkommen im vom Kamin beheizten Speiseraum. Bei guter Lektüre, hausgemachtem Kuchen und Cappuccino oder einem Glas Forst-Bier lässt sich hier der verregnete Tag wunderbar ruhig ausklingen. In der Hüttennähe, am Fuße der Klettersteigzustiege, befindet sich im Schatten der dominanten Brentagipfeln eine malerische Kapelle. Sie ist den in den Bergen verunglückten Bergsteiger*innen gewidmet und wird zu einem stillen Ort der Erinnerung. Auf der Hütte geht es mit der kulinarischen Reise weiter: mit einem hervorragenden Menüangebot und einer kostbaren Dessertauswahl.
Nachdem der Regen abgeklungen ist, erwartet uns ein Tag der Superlative: die aufgehende Sonne leuchtet die spitzen Zacken von Crozzon di Brenta und der Cima Tosa rot an und kündigt einen herrlichen sonnigen Tag an. Auf dem Programm steht das Herzstück der Brenta, der vermutlich spektakulärste Klettersteig Via Bocchette Centrale, der keine Wünsche eines trittsicheren und schwindelfreien Klettersteiggehers offenlässt. Auf ausgesetzten Leitern, luftigen Graten und schmalen Bändern, die sich durch die mächtigen Felswände ziehen, führt die Route durch die Hochgebirgslandschaft der Brentadolomiten – mit schwindelerregenden Tiefblicken in zerklüftete Schluchten. Die Abschnitte mit Drahtseilen und Leitern wechseln mit Gehpassagen und leichten Kletterpassagen ab, permanent begleitet von einem atemberaubenden Panorama.
Nach dem Einstieg über eine steile Eisenleiter erreichen wir rasch die erste Querung: ein exponiertes Felsband mit niedrigem Überhang, das sich um die Ecke des sandfarbenen Massivs zieht und uns dazu zwingt, die Passage teilweise kriechend zu überwinden. Auf weiteren Bändern gelangen wir zur Westseite der Cima Brenta Alta. Nach dem Passieren einer Felsspalte steigen wir konzentriert einige Meter in eine finstere Kluft ab. Majestätisch thront der zackige Turm Campanile Basso direkt vor unseren Augen. Von Martino erfahre ich sämtliche Details über berühmte Kletterrouten hier und der Gipfel landet gedanklich sofort auf meiner Bucket List. Ab einer aussichtsreichen Scharte setzen wir auf einem langen System der Bänder unsere Reise fort, bis wir am Höhepunkt der Tagesetappe jene prägnante Querung erreichen, die sich wie ein in den Fels gemeißelter Gang waagrecht durch die vertikale Felsflanke zieht. So hoch, dass gerade eine Körperlänge reinpasst und so breit wie zwei Bergstiefel nebeneinander, unter uns ein scharf abfallender Abbruch. Der Blick gen Abgrund neben unseren Füßen verliert sich in der Leere, während wir uns am quergezogenen Drahtseil, unserer einzigen Verbindung zum Fels, voller Faszination und Begeisterung fortbewegen. Ist diese Landschaft wirklich real? Die Brenta hinterlässt eine bleibende Wirkung. Je nach aktuellen Bedingungen und Gletscherzustand sind für den Abstieg über den Gletscher zur Alimontahütte Steigeisen oder aber Grödeln erforderlich. Über Geröll und Schutt steigen wir voller Eindrücke ab, immer noch überwältigt von der großartigen Bergwelt.
Kaum zu glauben, dass die erfüllte Brentawoche bereits zu Ende geht. Ein kleiner Gruppeninkonsens führt dazu, dass wir auf das zweite große Highlight, den berühmten Klettersteig Bocchette Alte, verzichten. Er hätte bei besserem Wetter am letzten Tag den krönenden Abschluss gebildet. Immerhin haben wir das letzte Stück im Rahmen der Tourenerweiterung am dritten Tag bereits absolviert. Nach dem Abstieg zurück zum Grosté-Pass wartet zum Abschluss und zum „Ausklettern“ noch ein kleiner, aber feiner Kompromiss, der sich perfekt für eine Halbtagestour eignet: der Sentiero Gustavo Vidi. Die Aussichten auf die zentrale und die nördliche Brenta enttäuschen nicht und da der Klettersteig eher im Schatten der berühmten Routen steht, ist es hier angenehm ruhig. Ein reizvoller Spot des Klettersteigs ist eine in den Fels geschlagene Nische mit Bank – ein perfekter Ort zum Verweilen. Nachdem uns nach einer letzten Kuchenpause die Grosté-Seilbahn ins Tal bringt, ist es die Zeit, Abschied zu nehmen. Voller Dankbarkeit notiere ich mir neue Tourenziele in der Brenta für zukünftige Kletterprojekte und weiß jetzt schon, dass es nicht das letzte Mal war. Danke, Brenta für dieses überwältigende Abenteuer!
